Der Anteil von Kindern und Jugendlichen, die in Nordrhein-Westfalen in Armut leben oder von Armut bedroht sind, ist überdurchschnittlich hoch: Im Ländervergleich lag NRW im Jahr 2019 mit einer Armutsquote von 25,2 Prozent auf dem zweitschlechtesten Platz unter den Flächenländern. In der regionalen Verteilung der Kinderarmut in Deutschland ist festzustellen, dass mehr als jedes vierte von Einkommensarmut betroffene Kind (27 Prozent) in NRW lebt. Besonders von Armut betroffen sind Kinder Alleinerziehender, aus Familien mit einer hohen Kinderzahl, aus Familien mit einer Einwanderungsgeschichte und Familien mit Haushaltsangehörigen ohne Berufs- und Schulabschluss.
Die langjährige Entwicklung von Kinder- und Jugendarmut stagniert für ein wohlhabendes Land auf einem viel zu hohen Niveau. Für Kinder und Jugendliche aus benachteiligenden Lebenslagen bedeutet dies schlechtere Zukunftschancen als andere Gleichaltrige. Bildungs- und damit Zukunftschancen hängen in Deutschland im OECD-Vergleich noch immer zu sehr vom sozio-ökonomischen Status der Eltern ab. Dies ist ein nicht hinnehmbarer Zustand! Faire Bildungschancen für alle Kinder zu ermöglichen, ist eine gesellschaftliche und politische Verantwortung. Wir wissen doch längst: je früher in Bildung, Gesundheit und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen „investiert“ wird, desto besser sind die Aussichten auf ein gutes Aufwachsen mit allen Zukunftschancen. Gleichermaßen ist Bildung und Teilhabe auch der wirksamste Schutz gegen eine „Weitergabe von Armut“ über Generationen hinweg. Bildung und Teilhabe helfen, Armutsspiralen zu durchbrechen. Es ist viel Wissen vorhanden, wie Kinder- und Jugendarmut begegnet werden kann. Dieses Wissen verteilt sich allerdings auf verschiedene Fachbereiche, Rechtskreise, örtlich erfolgreiche Konzepte und regionale Initiativen, Wissenschaft, Fachkräftewissen usw. Notwendig ist ein übergreifendes Handlungs- und Maßnahmenpaket, das die relevanten Handlungsfelder und die verschiedenen staatlichen Ebenen zusammenführt, die Zivilgesellschaft einbindet und ein abgestimmtes Vorgehen ermöglicht. Dies ist ein politischer Kraftakt.
Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut zum Top-Thema machen
Seit Jahren belegt eine Vielzahl von Studien die materielle Unterversorgung und die ungleiche Verteilung von Zukunftschancen für Kinder und Jugendliche. Politische Konsequenzen werden auf Bundes- und Landesebene kaum gezogen, so kommt das Wort „Kinderarmut“ im 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung der 18. Wahlperiode nur einmal vor und das in einer Fußnote. Aber Kinder- und Jugendarmut darf nicht länger eine politische Fußnote bleiben, sondern muss eines der zentralen sozialpolitischen Anliegen werden. Zwar ist die Landesebene kein gewichtiger Transferleistungsgeber, denn die meisten kind- und familienbezogenen Leistungen sind auf Bundesebene angesiedelt. Doch auch der Landesebene und den Kommunen kommt eine zentrale Rolle bei der Armutsbekämpfung, der Milderung ihrer Folgen sowie der Schaffung fairer Chancen für alle Kinder und Jugendliche zu. In der Zuständigkeit der Länder liegt nicht nur die Bildungspolitik, ihnen kommt auch eine zentrale Aufgabe bei Erhalt und Stärkung der sozialen Infrastruktur zu. Nicht zuletzt hat die
Corona-Pandemie gezeigt, dass Familien, Kinder und Jugendliche auf eine qualitativ gute öffentliche Infrastruktur angewiesen sind. Gerade einkommensarme Familien, Kinder und Jugendliche brauchen eine öffentlich organisierte und verlässliche soziale Unterstützungsstruktur, zum Beispiel Beratungsangebote, Familien- und Stadtteilzentren sowie kostengünstige Freizeitaktivitäten und Zugang zu Mobilität.
Es ist notwendig, die Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut zum Top-Thema zu machen,
dazu sind auf Landesebene folgende Maßnahmen notwendig:
- Armutsbekämpfung ist eine gesamtstaatliche und -gesellschaftliche Verantwortung. Neben einem notwendigen nationalen Aktionsplan, wie ihn auch die neue „EU- Kindergarantie“ fordert, und der Einführung einer Kindergrundsicherung auf Bundesebene, müssen auch Land und Kommunen gemeinsam mit den Partnern aus der Wirtschaft, der Freien Wohlfahrtspflege, Kirchen, Sozialverbänden, Gewerkschaften, Stiftungen und anderen Akteuren der Zivilgesellschaft ihren Beitrag leisten.
- Die Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut und ihrer Folgen kann nur durch ein ressortübergreifendes, dauerhaftes und gut koordiniertes Vorgehen gelingen. Daher ist neben finanziellen Mitteln die enge Vernetzung aller Ressorts durch eine interministerielle Arbeitsgruppe erforderlich.
Zur Umsetzung des Maßnahmen- und Handlungspakets ist eine ressortübergreifende Gesamtstrategie unter Federführung des für Kinder und Jugend zuständigen Ministeriums zu entwickeln. An der Entwicklung und Umsetzung der Strategie werden über ein Gremium
Expertinnen und Experten aus Spitzenverbänden (wie Kommunen und Freie Träger), Wissenschaft, Kinder- und Jugendverbände sowie weiterer Sachverstand beteiligt. Zur Finanzierung sind sowohl die Vielzahl vorhandener Fördermöglichkeiten in die Gesamtstrategie einzubinden. Ebenso sollen die Europäischen Fördermittel (vor allem EFRE und ESF) über das bisherige Maß hinaus in die Bekämpfung der negativen Folgen von Kinder- und Jugendarmut umgeschichtet werden. Nicht zuletzt werden auch zusätzliche Landesmittel notwendig werden, um das Ziel eines chancengerechten Aufwachsens für Kinder und Jugendliche zu erreichen.
Alle demokratischen Parteien sind aufgerufen, sich endlich dieser Herausforderung zu stellen. Die Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut ist eine zentrale Frage sozialer und Generationengerechtigkeit.
Ein Handlungs- und Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut für NRW
Das vorliegende Handlungs- und Maßnahmenpaket der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag von Nordrhein-Westfalen stellt Maßnahmen zusammen, die die Kinder- und Jugendarmut in NRW bekämpfen sollen.
Unsere Vorschläge fassen wir in vier Handlungsfeldern zusammen:
1. Gemeinsam gegen Kinder- und Jugendarmut in Bund, Land und Kommunen
2. Teilhabe und Beteiligung stärken
3. Jugendliche und junge Volljährige nicht aus dem Blick verlieren
4. Familien mit besonderen Belastungslagen brauchen besondere Unterstützung
1) Gemeinsam gegen Kinder- und Jugendarmut in Bund, Land und Kommunen
Bund, Länder und Kommunen tragen eine gemeinsame Verantwortung zur nachhaltigen Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut. Deshalb müssen alle Ebenen verstärkt zusammenwirken, um Teilhabe und faire Zukunftschancen für alle sicherzustellen. Die konkrete Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Familien geschieht vor Ort in den Kommunen und meist durch die öffentlichen und örtlichen Freien und kirchlichen Träger, Vereine sowie Initiativgruppen. Dabei haben die Jugendämter als kindbezogene Planungs-, Steuerungs- und Koordinationsstelle der Kommunen eine besonders hervorgehobene Rolle. Aufgabe des Landes ist es, die örtlichen Aktivitäten zur Bekämpfung der negativen Folgen von Kinder- und Jugendarmut fachlich zu unterstützen und finanziell verlässlich zu fördern.
- Ungleiches ungleich behandeln: sozialindexbasierte Förderung von Kitas und Schulen im Kampf gegen Kinder- und Jugendarmut.
- Um überhaupt einheitliche, Kinder und Jugend fördernde Lebensverhältnisse gewährleisten zu können, müssen auch Kommunen, die über hohe soziale Belastungslagen verfügen und sich in der Haushaltssicherung befinden, in die Lage versetzt werden, freiwillige Leistungen für Kinder, Jugend und Familien erbringen zu können. Neben der Verbesserung der schlechten finanziellen Lage der Kommunen, u.a. durch die Einführung eines Altschuldenfonds, wäre es ein wichtiger Beitrag die Leistungen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe als Präventionsarbeit, auch im Sinne einer nachhaltigen Haushaltsführung gesetzlich anzuerkennen.
- Kinder, Jugendliche und Familien brauchen eine qualitativ gute, organisierte und verlässliche soziale Infrastruktur. Bei der Gewährleistung dieser Infrastruktur müssen die Kommunen finanziell entlastet und besser unterstützt werden. Familienbüros, die
für Berechtigte von Hilfen Klarheit über ihre Ansprüche schaffen und so diese wahrgenommen werden (Hilfen aus einer Hand), müssen ausgebaut werden. - Alle relevanten Akteure vor Ort in kommunalen Präventionsketten vernetzen,sie
besser finanzieren und koordinieren. - Die Beteiligung von Akteuren (z.B. bei Kinderärzt*innen) an Präventionsketten
müssen als Fortbildung anerkennt werden, damit Anreize zu geschaffen werden. - Bund-Länder-Koordination zur Kinderarmut initiieren.
2) Teilhabe und Beteiligung stärken
Kinder und Jugendliche, die von Armut betroffen sind, machen schon sehr früh in ihrem Leben die Erfahrung, dass bestimmte Lebensbereiche für sie aufgrund der damit verbundenen Kosten unerreichbar sind. Gratisangebote oder finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten sind häufig nicht bekannt. Daher ist zum einen eine engere Begleitung und Beratung notwendig, zum anderen müssen Bedarfe erkannt und gedeckt werden, z.B. über Beteiligungsformate. Armut führt auch zu gesellschaftlicher Ausgrenzung, mangelnden Teilhabechancen und geringerer Repräsentation. Armut benachteiligt Jugendliche auch mit Blick auf demokratische und politische Teilhabe und Beteiligung. Es zeigt sich, dass sie sich seltener ehrenamtlich engagieren, sich weniger politisch beteiligen und sich auch weniger zugehörig zur Gesellschaft fühlen. Somit hat Armut gesamtgesellschaftliche Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität der Demokratie.
- Bessere Zugänge für Familien über aufsuchende Formate und Digitalisierung schaffen – hier kommen gerade Familienzentren, Schulen und Kitas, als Orte, an denen alle Familien erreicht werden können, eine besondere Bedeutung zu.
- Die Erarbeitung einer armutssensible und teilhabefördernde Landesjugendstrategie ist ein wichtiger Baustein zur Verbesserung von Teilhabe und Beteiligung, insbesondere von Kindern und Jugendlichen aus einkommensarmen Familien und prekären Lebenslagen stärkt (z.B. kommunale Kinder- und Jugendgremien, systematische Befragungen, Jugendcheck-Verfahren, Jugend-Monitoring unter
Berücksichtigung unterschiedlicher Lebenslagen). - Eine kostenlose Verpflegung in allen Kitas und Schulen entlastet vor allem einkommensarme Familien, auch wenn sie nicht unter die Regelungen des SGB fallen.
- Durch den Ausbau von öffentlichen Verkehrsmitteln und perspektivisch kostenlosen Tickets für unter 18-Jährige soll die eigenständige Mobilität von Kindern und Jugendlichen verbessert werden.
- Die Teilhabe an Kultur und Sport soll verbessert werden, auch über Schulen, Kitas und die Kinder- und Jugendarbeit.
3) Jugendliche und junge Volljährige nicht aus dem Blick verlieren
Jugendliche und junge Volljährige dürfen bei der Armutsbekämpfung nicht aus dem Blick geraten. Allerdings geschieht das bedauerlicherweise häufig, wie auch in der Corona-Pandemie gesehen werden konnte. Gerade die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist am stärksten von Armut betroffen. Ihre Armutsgefährdungsquote liegt mit rund 25 Prozent höher als in jeder anderen Altersgruppe. Allerdings wird Jugendarmut häufig nicht als wichtiges gesellschaftliches Problemwahrgenommen. Jugendliche und junge Volljährige stehen in dieser Phase ihres Lebens vor besonderen Herausforderungen, daher brauchen sie auch spezielle Unterstützung. Gerade junge Menschen am Übergang zum Erwachsenenalter dürfen nicht durchs Netz fallen, sondern brauchen gezielte Unterstützung auf ihrem Weg in ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben. Dazu gehören faire Bildungs- und Ausbildungschancen, gesellschaftliche Teilhabe und Beteiligung sowie eine gute Wohnraumversorgung und Mobilitätschancen.
- Die Einführung einer Ausbildungsgarantie soll auf Landeseben insbesondere durch eine Stärkung von Matching und Berufswahlorientierung und -beratung sowie einer Stärkung der außer- und überbetrieblichen Ausbildung auf Landesebene flankiert
werden. - Durch die Errichtung von Azubi- und Lernenden-Wohnheimen soll für Auszubildende günstiger Wohnraum in NRW geschaffen werden.
- Mehr Streetworker und Mobile Teams in prekären Stadt- und Ortsteilen sollen den Zugang zum Hilfesystemen und Unterstützung für die Adressat*innen optimieren.
- Bessere Unterstützung von Careleavern soll auch nach Erreichen der Volljährigkeit durch Wohnraum, Begleitung und Beratung erfolgen.
- Das Azubi-Ticket muss kostengünstiger zur Verfügung gestellt werden – auch Freiwilligendienstleistende müssen kostengünstigen Zugang zum ÖPNV erhalten.
- Durch freies WLAN soll an öffentlichen Einrichtungen sowie Einrichtungen der offenen Jugendarbeit und nach Möglichkeit dort, wo junge Menschen sich aufhalten, den kostenlosen Zugang zum Internet gewährleisten.
- Hilfe für junge Menschen aus einer Hand: Junge Menschen brauchen die professionelle Begleitung durch Ansprechpersonen, die ihre Anliegen bündeln und sie kompetent begleiten. Dabei kann dies sinnvollerweise in sozialraumbezogener Quartiersarbeit einbezogen werden.
4) Familien mit besonderen Belastungslagen brauchen besondere Unterstützung
Armut vererbt sich und wird zu einem generationenübergreifenden Lebensrisiko. Armut gefährdet Zukunftschancen, verhindert Teilhabe und wirkt sich negativ auf die physische und psychische Gesundheit aus. Deshalb müssen gerade die Familien stärker in den Blick genommen und unterstützt werden, die in prekären Verhältnissen mit den damit einhergehenden Herausforderungen leben. Vor allem Ein-Eltern-Familien sowie Familien mit drei und mehr Kindern haben besondere Armutsrisiken. Mehr als 40 Prozent der alleinerziehenden Familien sind von Armut betroffen. Von den Familienhaushalten mit Kindern im SGB-II-Bezug sind mehr als die Hälfte Ein-Eltern-Haushalte. Frühzeitige und niedrigschwellige Unterstützung und Begleitung sollen familiäre Armutsbiographien durchbrechen. Hilfen müssen daher räumlich noch mehr auf benachteiligte Stadt- und Ortsteile konzentriert und mehr Ressourcen auf solche Kitas und Schulen verteilt werden, die überproportional von Kindern und Jugendlichen aus armen Familien besucht werden.
- Die Regelsysteme Kita und Schule müssen besonders in benachteiligenden Quartieren gestärkt werden. In der institutionellen Bildung muss in Schulen, OGS und Kitas mit hohen Belastungslagen mehr pädagogisches Personal eingesetzt und die Schulsozialarbeit ausgebaut werden. Dazu muss eine sozialindexbasierte Förderung auch mit den notwendigen Ressourcen hinterlegt werden.
- Lernmittelfreiheit muss auch für das digitale Lernen gelten.
- Familienzentren in sozial benachteiligenden Stadt- und Ortsteilen müssen zusätzlich gestärkt werden.
- Familiengrundschulen in NRW sollen etabliert werden, damit Eltern besser unterstützt werden können.
- Die Kita-Sozialarbeit, die Kinder und Eltern berät und unterstützt, soll eingeführt werden.
- U 3 Ausbau über Kinderstuben in verdichteten Großstadtquartieren sollen in die KiBiz-Förderung aufgenommen werden.
- Die Kita-Finanzierung muss so ausgestaltet sein, dass sie nicht mehr von Stundenbuchungen und Kindpauschalen abhängig ist und so insbesondere für Kinder aus benachteiligten Lebenslagen eine verlässliche und teilhabeorientierte Betreuung gewährleistet.
- Niedrigschwellige Anlaufstellen für Familien müssen als Orte der Begegnung, des Austausches, aber auch der Beratung und Weitervermittlung geschaffen werden.
- Die Angebote psychosozialer Beratung für Kinder, Jugendliche und Familien müssen in NRW ausgebaut werden.