Rede zur Unterrichtung der Landesregierung „Perspektiven nach der Pandemie – Priorität für die Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen“
am 19. Mai 2021 im Landtag NRW
(es gilt das gesprochene Wort)
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Frau Präsidentin,
junge Menschen tragen seit Monaten eine große Last in dieser Pandemie und sie tragen die Corona-Maßnahmen solidarisch und verantwortungsbewusst mit. Und wie viel Vernunft spricht da aus Kindern, wenn sich der kleine Ole in einem Bericht bei Westpol nur wünscht, ob vor den Sommerferien nicht doch noch irgendwie ein Wiedersehen mit seinen Freund*innen aus der Grundschule möglich wäre – wenn es Corona zulässt – wie er gleich ergänzt.
Und wie viel Traurigkeit auch in solchen Sätzen steckt, wenn man seine Freunde seit Wochen nicht sehen kann, wenn das Fußballtraining nicht regelmäßig stattfindet, wenn Geburtstage nicht gefeiert werden können.
Kinder und Jugendliche leisten in dieser Pandemie außergewöhnliches. Sie stellen sich irgendwie auf die herausfordernde Situation ein und sie ertragen die Einschränkungen, weil es natürlich auch um ihre Gesundheit geht, aber vor allem, weil sie einen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Dafür möchte ich auch einfach mal DANKE sagen!
Aber auch hier gilt: Applaus allein reicht nicht! Wir brauchen wirkliche Perspektiven für Kinder und Jugendliche. Wir werden in dieser Woche noch mehrfach über das Thema diskutieren und das ist auch gut so. Denn die Zahlen sind alarmierend, wenn jedes dritte Kind psychische Auffälligkeiten zeigt, wenn Bewegungsmangel und damit einhergehende gesundheitliche Folgen zunehmen, wenn die Pandemie auch bereits deutlich Spuren bei Sprachentwicklung oder motorischer Entwicklung von Kindern hinterlassen hat.
Corona hat die Schere der sozialen Ungleichheit noch deutlicher auseinander getrieben. Gerade im Bildungsbereich haben sich Ungleichheiten verschärft. Bei den Voraussetzungen, um die schwierige Situation innerfamiliär kompensieren zu können, aber auch ganz handfest. Überproportional häufig mussten solche Schüler*innen im angepassten Regelbetrieb in den Distanzunterricht zurückkehren, deren soziale, familiäre, wohnliche und technische Voraussetzungen besonders schlecht dafür geeignet waren.
Die Corona-Krise ist auch eine soziale Krise und „Perspektiven“, wie im Titel der Unterrichtung angekündigt, müssen genau dort ansetzen. Wir brauchen jetzt gezielte Unterstützung in den Quartieren mit hohen Belastungen und prekären Lebensverhältnissen. Diese Perspektiven dürfen sich nicht in kurzfristig zusammengeschusterten Ferienprogrammen erschöpfen, sondern müssen mittel- und langfristig gedacht werden, denn diese Krise hat für viele tiefere Spuren hinterlassen als sich kurzfristig durch Öffnungen bewältigen ließen.
Programme, deren Mittel nicht abfließen, wie im vergangenen Sommer, sind dann leider nur ein Feigenblatt.
Schaffen Sie jetzt aber auch kurzfristig Perspektiven und Planungssicherheit für Kinder-, Jugend- und Familienfreizeiten. Die Träger stehen bereit, aber sie brauchen klare Zusagen und klare Rahmenvorgaben seitens der Politik.
Legen Sie einen klaren Stufenplan für Kinder- und Jugendeinrichtungen vor. Sie brauchen diese Entwicklungsräume. Es darf nicht noch einmal passieren, dass Möbelhäuser statt Spielplätzen öffnen oder aktuell Biergärten statt offener Kinder- und Jugendtreffs.
Sorgen Sie jetzt für einen verlässlichen Rahmen für Schulen über die Sommerferien hinaus mit gezielter Unterstützung durch zusätzliches Personal für kleine Lerngruppen, Paten-Programme, Einbeziehung außerschulischer Lernorte. Die Bewältigung der Pandemiefolgen bedarf gezielter Unterstützung.
Ermöglichen Sie, Frau Ministerin Gebauer und Herr Minister Stamp, vielfältige Angebote, um Kinder wieder zu aktivieren, zu motivieren und Lücken zu schließen.
Seit mehr als einem Jahr sind die Lebenswelten und Entwicklungsräume von Kindern und Jugendlichen stark eingeschränkt. Und das macht etwas mit ihnen. Das macht etwas mit ihren Zukunftschancen, das macht aber auch etwas mit ihrem Vertrauen in politisches Handeln. Aller Bekundungen zum Trotz mussten Kinder, Jugendliche und Familien immer wieder feststellen, dass andere Interessen mehr Gehör fanden und mehr Berücksichtigung.
Familien bleibt nichts anderes übrig, als ihren Alltag unter Pandemiebedingungen zu meistern. Sie kommen dabei oft an ihre Belastungsgrenzen.
Deshalb entlasten Sie die Familien endlich, auch als Signal der Wertschätzung, Anerkennung und Solidarität, und erstatten Sie auch die Kita- und OGS-Beiträge für Februar, März, April. Beenden Sie diese unwürdige Auseinandersetzung mit Eltern und Kommunen. Das ist zwar noch keine langfristige Perspektive, aber wenigstens ein Zeichen, dass Familien nicht durchs Raster fallen.
Die letzten Wochen und Monate haben an Nerven, Existenzen, Zukunftschancen gezehrt. Und der Wunsch nach einer Rückkehr zu mehr „Normalität“ ist bei uns allen groß.
Die Landesregierung hat nun mit der seit dem 15. Mai gültigen Corona-Schutzverordnung eine Art Stufenplan vorgelegt. Endlich möchte man sagen, nachdem Expert*innen dies seit Monaten einfordern. Mehr Verlässlichkeit und Nachvollziehbarkeit in die notwenigen Maßnahmen zu bringen, haben auch wir Grüne hier seit Wochen vorgetragen und entsprechende Initiativen vorgelegt. Fahren auf Sicht mit öffentlichen Verlautbarungen zum Wochenende waren eben gerade keine verlässliche Pandemiepolitik und Sie haben denjenigen, die vor Ort die Maßnahmen umsetzen müssen, den Kommunen, den Schulen, aber auch den Eltern und Kindern das Leben nicht leichter gemacht.
Kommunikation ist ein entscheidender Faktor in der Pandemiebekämpfung. Was wie eine Binsenweisheit klingt, scheint aber bei der Landesregierung nach wie vor nur bedingt handlungsleitend. In der Anhörung des Unterausschuss Pandemie ist dies nochmal sehr deutlich unterstrichen worden. Es braucht eine klare Kommunikation, es braucht Information und Aufklärung (niedrigschwellig, in unterschiedlichen Sprachen, aber auch in leichter Sprache). Es braucht mehr aufsuchende Impfangebote in den Quartieren, nicht zuletzt, um dort auch einen Beitrag zur Erhöhung der Impfbereitschaft zu leisten. Es braucht aber auch mehr direkte Ansprache und Beteiligung. Gerade diese Landesregierung hat immer stark an die „Eigenverantwortung der Bürger*innen“ appelliert. Darüber darf man sich aber nicht aus der Verantwortung stehlen, die der Staat gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürger hat. „Eigenverantwortung“ ersetzt auch keine Beteiligung. Die Bedürfnisse und Interessen, aber auch die Vorschläge von Kindern, Jugendlichen und Familien wurden in dieser Krise nicht ausreichend gehört.
Dafür ist es aber nicht zu spät. Nehmen Sie Kinder und Jugendliche auch in der Pandemiepolitik als Expert*innen in eigener Sache Ernst.
Und trotz aller positiven Entwicklungen und auch der offensichtlichen Nöte, die aus den Schließungen und Einschränkungen entstehen, müssen wir weiter vorsichtig sein. Wir dürfen das Erreichte nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, indem wir zu schnell, zu viel öffnen. Es muss klare Prioritäten geben. Kinder und Jugendliche müssen Priorität haben und draußen vor drinnen muss Priorität haben.
Solange der Anteil der Geimpften noch nicht groß genug ist, um sicher zu sein, dass die Lage nicht nochmal kippt, müssen wir weiter umsichtig bleiben. Auch eine mögliche Ausbreitung der Indischen Mutation muss mit Sorge beobachtet werden. Die Pandemiebekämpfung ist immer noch kein Selbstläufer. Wenn wir jetzt wieder zu früh zu viel öffnen, dann steigt die Gefahr eines Jojo-Effekts. Deshalb ist es uns GRÜNEN ein sehr wichtiges Anliegen, dass an den richtigen Stellen und mit Vorsicht geöffnet wird.
Die Impfungen sind der Weg aus der Pandemie.
Doch noch immer sind nicht alle Menschen der Priogruppe 1 und 2 durchgeimpft. Auch in den Sammelunterkünften haben längst nicht alle Geflüchteten ein Impfangebot erhalten.
Die Hausärzte warnen bereits vor anstehendem Chaos bei einem absehbaren Ansturm durch die Öffnung für alle. Hausärzte dürfen nicht mit der steigenden Ungeduld der Bürgerinnen und Bürger, möglichst bald eine Impfung zu erhalten, allein gelassen werden. Noch ist der Impfstoff zu knapp, um allen ein Impfangebot machen zu können – das wird Enttäuschungen produzieren. Die Landesregierung kann und darf die Verantwortung für ein geordnetes Impfverfahren nicht wieder auf andere abwälzen.
Reihenimpfungen in Schulen und durch Betriebsärzte müssen jetzt vorbereitet werden, damit es schnell und koordiniert vorangeht, wenn mehr Impfstoff da ist. Gleichermaßen müssen aufsuchende Impfungen, beispielsweise in benachteiligten Stadtteilen, weiter vorangetrieben werden, um für einen entsprechenden Impffortschritt zu sorgen.
Wir sind auf einem guten Weg, aber wir sind längst nicht durch die Pandemie. Die Landesregierung ist jetzt gefordert in der Bekämpfung der Akutsituation, sie ist aber auch in der Verantwortung für die Bewältigung der Pandemiefolgen. Das dürfen Sie, Herr Ministerpräsident, jetzt nicht wieder durch Zick-Zack-Kurs und Auf-Sicht-Fahren verstolpern.