Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind seit Beginn der Pandemie in ihren Lebensräumen, Alltagswelten und Entwicklungsmöglichkeiten besonders eingeschränkt. Trotzdem werden ihre Situation und ihre besonderen Bedürfnisse im politischen Diskurs über die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu wenig berücksichtigt. Insbesondere mit Blick auf ihre besondere Lebenslagen brauchen Kinder und Jugendliche mehr Unterstützung. Während Kinder nur noch wenig Zeit mit ihren Altersgenoss*innen verbringen, verlieren Jugendliche und junge Erwachsene die Möglichkeit in einem wichtigen Lebensabschnitt wertvolle Erfahrungen zu machen. In diesen Phasen stehen Weichenstellungen für die weitere Lebensperspektive junger Menschen an. Die pandemische Situation verlangt von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ihre Lebensplanung an die pandemische Situation anzupassen und sich umzuorientieren.
In der Diskussion um die richtigen Maßnahmen der Bundes- und Landesregierung werden Kinder und Jugendliche auf ihre Rolle als Schülerinnen und Schüler oder Kita-Kinder reduziert. Kinder und Jugendliche dürfen aber nicht nur als solche betrachtet werden. Zwar bilden Schule und Kita für sie zentrale Bezugspunkte in ihrem Alltag, ihre Lebenswelten und Entwicklungsräume gehen aber darüber hinaus. Gutes und gesundes Aufwachsen und das Recht auf Teilhabe geht über die zentrale Frage der Bildungsgerechtigkeit hinaus. Deshalb müssen auch Lebens- und Entwicklungsräume jenseits von Kitas und Schulen sowie eine bessere Unterstützung von Familien in den Blick genommen werden.
Kinder und Jugendliche brauchen Entwicklungsräume
Nicht nur Kinder brauchen andere Kinder für ihre Entwicklung, auch Jugendliche leiden unter dem Wegfall ihrer sozialen Räume. Die Schließung von Schulen, Jugendeinrichtungen oder Sport- und Kulturangeboten verändern den Jugendalltag massiv. Die eingeschränkten Möglichkeiten zum Austausch mit Gleichaltrigen beschränkt auch eine altersangemessener Alltagsbewältigung und die Möglichkeiten des psychosozialen Ausgleichs.
Laut der 2. JuCo-Studie[1] gaben 81% der befragten Jugendlichen an, dass sich ihre Freizeitgestaltung (deutlich) verändert hat. Insbesondere fehlen Orte der Begegnung mit Gleichaltrigen. Über ein Drittel gab an, sich in der aktuellen Situation einsam zu fühlen. Distanz und Einsamkeit sind eine psychosoziale Belastung für Kinder und Jugendliche, die sich auf ihr Wohlbefinden negativ auswirken können.
Sportliche, kreative, handwerkliche und soziale Aktivitäten ermöglichen Kindern und Jugendlichen eigenes Wirken auszuprobieren, Autonomie zu erfahren und ihre soziale Zugehörigkeit zu suchen oder zu finden. Durch den Distanzunterricht und die fehlenden Freizeitangebote sind die strukturierenden Elemente im Lebensalltag vieler Kinder und Jugendlichen weggebrochen. Gleichzeitig fehlen oftmals Anreize für eine gesundheitsförderliche Entwicklung: Kinder und Jugendliche bewegen sich aktuell weniger und ernähren sich schlechter. Es braucht niedrigschwellige Angebote, um sie wieder zu aktivieren und Angebote des Kontakts mit Gleichaltrigen zu bringen. Solche offenen Angebote bieten aber auch die Chance, Kontakt zu erwachsenen Bezugspersonen herzustellen.
Die vielfältig aufgestellte Kinder- und Jugendarbeit ist mit ihren unterschiedlichen Angeboten und Einrichtungen ein wichtiger Akteur zur Förderung einer gesunden und ganzheitlichen Entwicklung. Gleichzeitig bieten sie wichtige Räume der Mitbestimmung und Mitgestaltung. Sie unterstützen Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu Selbstbestimmung und sind ein wichtiger Ort der Demokratiebildung. Gerade in Zeiten der Pandemie brauchen junge Menschen Selbstwirksamkeitserfahrungen und Schutzräume.
Wir brauchen von Wissenschaft und Praxis erarbeitete Stufenpläne, bei welchen Inzidenzwerten geöffnet werden kann bzw. welche Maßnahmen bei hohen Inzidenzzahlen auch wieder verschärft werden müssen. In einem solchen Stufenplan müssen auch Präsenzangebote für Kinder- und Jugendliche, aber auch Bewegung, Spiel und Sport Berücksichtigung finden. Auch die Jugendhilfe muss in eine Schnellteststrategie des Landes einbezogen werden. Kurzfristig muss das Land Mittel zur Verfügung stellen, um niedrigschwellige, offene Angebote für Kinder und Jugendliche auf Spielplätzen, Freiflächen, Hallen (mit großen Abständen) zu unterstützen. Darüber hinaus müssen bereits jetzt zusätzliche Programme für Jugend- und Familienfreizeiten auf den Weg gebracht werden, die stattfinden können, wenn die Inzidenzwerte es wieder zulassen. Diese Jugend- und Familienfreizeiten können zum Beispiel in Kooperation mit den Jugendherbergen durchgeführt werden. Den Bedarfen für Kinder und Jugendlichen in prekären Lebenslagen und Kindern mit besonderen Herausforderung muss Rechnung getragen werden und Präsenzangebote ermöglicht und digitale Angebote unterstützt werden. Angebote der Kinder- und Jugendarbeit mit Schwerpunkt LGBTIQ, Antirassismus, Inklusion, Geflüchteten- sowie Mädchenarbeit müssen im besonderen Maße berücksichtigt werden.
- Erarbeitung eines Stufenplans zum Umgang mit der Pandemie, der Präsenzangebote in der Kinder- und Jugendarbeit mit Bewegung, Spiel und Sport durch Wissenschaft und Praxis ermöglicht.
- Das Land muss kurzfristig Mittel zur Verfügung stellen, um niedrigschwellige, offene Angebote für Kinder und Jugendliche auf Spielplätzen, Freiflächen, Hallen (mit großen Abständen) zu unterstützen.
- Bereits jetzt zusätzliche Programme für Jugend- und Familienfreizeiten auf den Weg bringen.
- Zusätzliches Personal für Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit durch Studierende beispielsweise der Sozialen Arbeit gewinnen und landesseitig finanzieren.
- Einbeziehung der Jugendhilfe in eine landesweite Schnellteststrategie
Benachteiligungen verschärfen sich in der Krise
Die Corona-Pandemie und die Maßnahmen haben bereits bestehende Probleme und Schieflagen in der Gesellschaft verdeutlich und verschärft. Kurzarbeit oder Verdienstausfälle durch den Jobverlust beeinflussen die Lebensrealität der Menschen. Benachteiligte Familien haben oftmals weniger Ressourcen, um die Folgen und Herausforderungen der Krise ohne weitere Unterstützung zu meistern. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass die Armut von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien in Folge der Pandemie und den Corona-Schutzmaßnahmen verschärft wird.
Nach aktuellen Ergebnissen der COPSY-Studie[2] des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) haben insbesondere die psychischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen im Laufe der letzten Monate zugenommen. Insbesondere auch die Lebensumstände in Familien spielt dabei für das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen eine große Rolle. Insgesamt kamen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrer Befragung von Kindern und Jugendlichen zu dem Ergebnis, dass 90% ihre Situation als genauso anstrengend oder gar belastender empfanden als im ersten „Lockdown“. Nur 10% gaben an, dass eine Verbesserung spürten. Auch psychische Auffälligkeiten unter Kindern und Jugendlichen haben demzufolge zugenommen.
Insbesondere die familiäre Situation spielt bei den Bewältigungsmöglichkeiten eine wichtige Rolle. Familien, die bereits vor der Krise ein stabiles Familiensystem darstellten, ihre Kinder unterstützen und ein gutes häusliches bzw. räumliches Umfeld haben, kommen besser durch die Pandemie. Für Kinder aus benachteiligten Familien verschärft sich die Situation durch beengte Wohnverhältnisse, fehlende materielle Ressourcen und mangelnde Unterstützungsmöglichkeiten durch die Eltern noch deutlicher.
Gerade für Familien mit niedrigem Einkommen oder Transferleistungsbezug stellt der Wegfall des kostenlosen Mittagsessen durch die Schließung von Schulen und den eingeschränkten Betrieb von Kitas eine zusätzliche Belastung dar. Darüber hinaus haben sich die Kosten für frische Lebensmittel in der Krise deutlich erhöht.
Die besondere Situation der Pandemie macht es unabdingbar, für die Dauer der Pandemie die Grundsicherung auf Bundesebene aufzustocken.
- Eine temporärer Corona-bedingte Aufstockung der Grundsicherung, um die steigenden Kosten in der Pandemie auszugleichen.
- Präsenzangebote für Kinder und Jugendliche in prekären Lebenslagen oder mit besonderen Herausforderungen auch in der aktuellen Phase der Schließungen unter Wahrung des Infektionsschutzes zu ermöglichen.
Starker Kinderschutz auch in der Pandemie
Die Sorge vor häuslicher Gewalt, die durch die Pandemie begünstigt werden könnte, besteht immer noch. Einer repräsentativen Befragung der TU München[3] aus dem Juni 2020 zu Folge habe jedes zehnte Kind während der Kontaktbeschränkungen Gewalt erfahren. Die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche bleibt häufig unerkannt. Teilweise zurückgegangene Zahlen in Kinderkliniken oder Kinderschutzambulanzen deuten auf eine Verschiebung ins Dunkelfeld während des Lockdown. Die Pandemie erschwert die Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen, die Gewalt erfahren haben. Kinder und Jugendliche dürfen nicht zu Hause isoliert werden. Der Kontakt zu Vertrauenspersonen und möglichen Unterstützungsstrukturen darf nicht gekappt werden. Anlaufstellen und Schutzangebote für Kinder und Jugendliche müssen gerade in Zeiten von Schließungen oder eingeschränkter Zugänglichkeiten von Schulen, Kitas und Jugendeinrichtungen breit bekannt gemacht werden. Kinder und Jugendliche müssen wissen, wo sie Schutz und Unterstützung finden.
- Die stationären und teilstationären Kinder- und Jugendhilfe stellt für Kinder und Jugendliche ein wichtiges Unterstützungsangebot und in unterschiedlichen Wohn- und Lebensformen ein sicheres Lebensumfeld dar. Hier können die Mitarbeitenden im Kontext ihrer Arbeit keine Abstandsregeln einhalten. Die Mitarbeitenden der stationären und teilstationären Kinder- und Jugendhilfe dürfen nicht aus dem Blickfeld geraten und müssen im Sinne des Arbeits- und Gesundheitsschutzes unterstützt werden. Auch ihnen muss eine regelmäßige Testung ermöglicht werden. Zusätzliche Hygienemaßnahmen, wie FFP2-Masken müssen flächendeckend, ausreichend und kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Bei der Impfpriorisierung müssen sie mit Lehrkräften und Mitarbeitenden der Kindertagesbetreuung gleich behandelt werden. Schutzangebote für Kinder und Jugendliche in der Pandemie besser bekannt zu machen und auszubauen
- kostenfreie und regelmäßige Testungsmöglichkeiten für Mitarbeitende der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendhilfe schaffen.
- Gleichsetzung Mitarbeitende der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendhilfe mit Lehrkräften von Schulen und Kita-Mitarbeitenden bei der Impfpriorisierung.
Beteiligung von Kindern und Jugendlichen stärken
Seit Beginn der Krise haben Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene häufig den Eindruck, dass ihre Interessen, Bedarfe und Rechte nur wenig Berücksichtigung und Gehör finden. Sie werden offensichtlich mit ihren Erfahrungen und Forderungen nicht in politische Entscheidungs- und Abwägungsprozesse über Maßnahmen einbezogen. Dabei können sie als Expertinnen und Experten in eigener Sache wichtige Hinweise zum Alltag junger Menschen in der Corona-Krise liefern sowie Ideen für Maßnahmen zur besseren Berücksichtigung der Kinderrechte bei allen Maßnahmen einbringen. Deshalb sollten junge Menschen, ihre Selbstorganisationen und Interessenvertretungen in Entscheidungs- und Abwägungsprozesse einbezogen werden, z.B. durch ihre Einbeziehung in einen Pandemierat. Die Stimmen der Kinder und Jugendlichen mit ihren unterschiedlichen Positionen müssen sichtbar werden. Die Landesregierung darf sie nicht weiter ignorieren. Die Erfahrungen von jungen Menschen müssen in die Entscheidungen über weitere Corona-Schutzmaßnahmen einbezogen werden. Deshalb müssen Möglichkeiten geschaffen werden, wie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene befragt, beteiligt und einbezogen werden. In einigen Ländern gibt es bereits Ideen zu Corona-Bürgerräten. Solche Konzepte müssen auf junge Menschen unter 18 ausgeweitet werden. Über digitale Kinder- und Jugendkonferenzen und kommunale Befragungen können möglichst viele junge Menschen einbezogen werden. Um den Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie landespolitisch mehr Gewicht zu verleihen, sollte die Landesregierung zu einem Kinder- und Jugendgipfel einladen.
Gleichzeitig wäre es sinnvoll, die Ergebnisse bundesweiter Studien zur Situation von Kindern und Jugendlichen speziell für NRW auszuwerten.
- Einbeziehung von Kinder- und Jugendvertreterinnen und -vertreter in einen Pandemierat
- Ausrichtung eines Kinder- und Jugendgipfels, um Vertreterinnen und Vertreter der Kinder- und Jugendorganisationen wahrzunehmen und hörbar zu machen.
- Unterstützung kommunaler Befragungen und digitaler Kinder- und Jugendkonferenzen.
- Bundesweite Studien zu den Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie speziell für NRW auswerten.
Zwölf Punkte für mehr Beteiligung und Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Pandemie:
- Erarbeitung von Konzepten für einen Stufenplan zur Ermöglichung von Präsenzangeboten in der Kinder- und Jugendarbeit durch Wissenschaft und Praxis.
- Bewegung, Spiel und Sport im Rahmen eines Stufenplans ermöglichen.
- Jugendhilfe in eine Schnellteststrategie des Landes einbeziehen
- Das Land muss kurzfristig Mittel zur Verfügung stellen, um niedrigschwellige, offene Angebote für Kinder und Jugendliche auf Spielplätzen, Freiflächen, Hallen zu unterstützen.
- Bereits jetzt zusätzliche Programme für Jugend- und Familienfreizeiten auf den Weg bringen.
- Präsenzangebote für Kinder und Jugendliche in prekären Lebenslagen oder mit besonderen Herausforderungen auch im Lockdown und Wahrung des Infektionsschutzes zu ermöglichen.
- Temporäre Aufstockungen der Grundsicherung auf Bundesebene.
- Freiwillige, kostenfreie und regelmäßige Testungsmöglichkeiten für Mitarbeitende der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendhilfe schaffen.
- Gleichsetzung Mitarbeitende der teilstationären und stationären Kinder- und Jugendhilfe mit Lehrkräften von Schulen und Kita-Mitarbeitenden bei der Impfpriorisierung.
- Einbeziehung von Kinder- und Jugendvertreterinnen und -vertreter in den Pandemierat
- Ausrichtung eines Kinder- und Jugendgipfels, um Vertreterinnen und Vertreter der Kinder- und Jugendorganisationen wahrzunehmen und sichtbar zu machen.
- Neue Formate für mehr Beteiligung junger Menschen entwickeln: digitale Kinder- und Jugendkonferenzen, kommunale Befragungen zur aktuellen Situation und Bedarfen
[1] Forschungsverbund „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“ setzt sich zusammen aus dem Institut für Sozial- und Organisationspädagogik an der Stiftung Universität Hildesheim und dem Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung an der Universität Frankfurt in Kooperation mit der Universität Bielefeld.
[2] https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/forschung/arbeitsgruppen/child-public-health/forschung/copsy-studie.html
[3] https://www.tum.de/die-tum/aktuelles/covid-19/artikel/article/36053/