Das Soziale in Zeiten der Krise
Die Corona-Krise ist auch eine soziale Krise. Derzeit zeigt sehr deutlich, wie tief unsere Gesellschaft sozial gespalten ist. Denn die Krise trifft nicht alle gleich. Ja, wir alle sind von den massiven Einschnitten in das öffentliche Leben betroffen. Aber die Auswirkungen sind nicht für alle gleich. Viel mehr droht die Corona-Krise soziale Ungleichheiten noch zu verstärken.
Sozialverbände und Kinderschutzorganisationen schlagen Alarm: Die Ärmsten und Schwächsten unserer Gesellschaft dürfen nicht durchs Netz fallen. Unsere Gesellschaft muss jetzt auch einen sozialen Rettungsschirm aufspannen.
Menschen in prekären Lebenslagen trifft die Krise besonders hart, denn auch die sozialen Unterstützungssysteme sind zu einem großen Teil runtergefahren. Viele Tafeln haben geschlossen, Kinder bekommen aktuell kein Mittagessen in Kita oder Schule. Viele Menschen stellt das vor ganz existenzielle Probleme. Es liegt in der Verantwortung von Politik und Gesellschaft, dass diese Krise nicht die zurücklässt, die ohnehin am wenigsten haben. Die Forderung nach einer vorrübergehenden Aufstockung sozialer Leistungen ist deshalb absolut richtig. Viele Menschen sind auf die zusätzlichen Lebensmittel der Tafeln angewiesen. Zudem sind die günstigen Lebensmittel derzeit auch die, die zuerst in den Supermärkten ausverkauft sind. Ein Regelsatz, der im Normalfall schon viel zu knapp bemessen ist, ist endgültig zu wenig, wenn die zusätzliche Unterstützung im Alltag wegfällt.
Prekär ist die Lage auch in der Bildung. Derzeit müssen Lernangebote online stattfinden. Was einerseits ein Fingerzeig für die weitere Digitalisierung von Bildungsprozessen sein kann, wirkt für manche Kinder wie eine neue Hürde zu Teilhabe und Bildung. Laptop oder Tablet sind längst nicht in jeder Familie verfügbar. Die derzeit aus der Not heraus entstehende Digitalisierung der Bildung darf nicht zu digitalen Bildungsverlierer*innen führen. Mittel aus dem Bildungs- und Teilhabepaket müssen beispielsweise auch für digitale Hilfsmittel zugänglich sein.
Es geht um physische Distanz – nicht soziale
Für uns alle ist die aktuelle Situation eine große Herausforderung, umso wichtiger ist es, dass aus physischer Distanz nicht auch soziale wird. Einsamkeit und psychische Belastungen wiegen in solchen Zeiten umso schwerer. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch ohne persönlichen Kontakt Möglichkeiten schaffen, um Menschen in schwierigen Lebenslagen zu unterstützen. Beratungsangebote müssen jetzt kurzfristig und unbürokratisch auf telefonische und online Erreichbarkeit umgestellt werden. Dazu braucht es auch finanzielle Mittel, um Beratungsstellen mit den technischen Möglichkeiten auszustatten.
Wir dürfen uns auch jetzt nicht aus den Augen verlieren. Das gilt ganz besonders dort, wo Isolation zu einer Gefahr werden kann. Nicht für alle Menschen sind die eigenen vier Wände ein sicherer Ort. Erfahrungen aus China, Frankreich oder Italien haben bereits gezeigt, dass ein Anstieg häuslicher Gewalt zu befürchten ist. Auch die aktuellen Ausgangsbeschränkungen heißen nicht, dass Menschen an einem Ort bleiben müssen, der für sie gefährlich ist. Besonders hart trifft dies Frauen und Kinder. Es ist deshalb gut und richtig, wenn jetzt zusätzliche Kapazitäten für Frauenhäuser und die Inobhutnahme von Kinder geschaffen werden. Diese Vorbereitungen müssen flächendeckend passieren.
Genauso wichtig ist es aber, im Kontakt zu bleiben. Kinderschutz muss auch jetzt Priorität haben. Bereits jetzt gibt es bei der bundesweiten Seelsorge Hotline Nummer gegen Kummer einen Anstieg um 20%. Der Kinderschutz ist absolut systemrelevant. Doch erleben wir, dass ambulante Angebote der Kinder- und Jugendhilfe zu einem großen Teil zum Erliegen gekommen sind. Und auch die familienunterstützenden Dienste mussten ihre Arbeit auf ein Minimum reduzieren. Eine Gesellschaft im Krisenmodus ist für viele Familien eine konkrete persönliche Krise. Überforderung, Stress, mögliche Existenzängste wirken sich auf das Familienleben aus und sind auch für Kinder massive Stressfaktoren. Hier braucht es schnell Maßnahmen, um Kinder und Familien weiter betreuen und unterstützen zu können und auch, um im Notfall intervenieren zu können.
Klatschen alleine reicht nicht
In Krisenzeiten zeigt sich aber auch, was und vor allem wer systemrelevant ist. Aktuell wird deutlich, dass es diejenigen sind, deren Arbeit wir ansonsten als quasi selbstverständlich ansehen und allzu oft auch schlicht übersehen. Es ist insbesondere der Sektor der sog. Care-Arbeit, der derzeit die Kohlen aus dem Feuer holt und bis zur Erschöpfung alles tut, um in dieser Situation den Laden am Laufen zu halten. Es sind auch und gerade die Berufsgruppen, die, schlecht bezahlt und unter oftmals schlechten Arbeitsbedingungen, auch in Nicht-Krisenzeiten das Rückgrat unserer Gesellschaft bilden. Nur spendet ihnen dafür eben meist niemand Beifall.
Die aktuell als „systemrelevant“ eingestuften Berufen, in der Pflege, im Bildungs- und Betreuungsbereich oder im Einzelhandel, werden zu über 70% von Frauen ausgeübt. Momentan bekommen sie für ihre Arbeit viel Aufmerksamkeit und Anerkennung. Zu recht wird nun auch die Forderung nach einer besseren Entlohnung immer lauter. Zum einen wird über einmalige Bonuszahlungen gesprochen, die, so richtig sie sind, aber nur ein Anfang sein können. Wir müssen auch nach der Krise darüber sprechen, welche Berufe für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt eigentlich relevant sind und wie wir diese bezahlen und die Arbeitsbedingungen ausgestalten. Beifall vom Balkon oder auch in den Parlamenten sind eine schöne Geste, aber sie reichen nicht. Beifall bezahlt keine Miete und von dem Beifall kann die alleinerziehende Verkäuferin auch nicht mal ein paar Tage in den Urlaub fahren.
Die Corona-Krise fordert unsere Gesellschaft in einer Weise heraus, wie wir sie in dieser Dimension noch nicht erlebt haben. Wie unter einem Brennglas kommen nun unsere gesellschaftlichen Herausforderungen und die soziale Spaltung in diesem Land deutlicher als im vermeintlichen Alltag zu Tage. Nehmen wir die Signale und auch die (politische) Aufmerksamkeit, die den sozialen Fragen gerade entgegenkommt, ernst, kann diese Krise auch ein Chance sein für eine langfristige Debatte um mehr soziale Gerechtigkeit.